Mit dem Transistor am Ohr

»Vadders Transistor«

»Das könnt ihr euch heute nicht mal ansatzweise vorstellen!«

Diesen gönnerhaft überheblichen Spruch genieße ich, wenn ich jungen Menschen von meiner Jugend erzähle. Sonst bleibt mir ja auch nichts, mit dem ich noch gleichziehen könnte. Im Sport und auch sonst mache ich den Jungen nix mehr vor. Bei der Bedienung von Handy und Tablet erklärt man mir nichts mehr, man reißt mir die Teile mit rollenden Augen genervt aus den Händen – »Gib schon her, Vaddr! Du checkst das nicht!« – und tippt dann blitzschnell und beiddäumig was ein. Pfff, die Arthrose lauert schon auf euch!

Dafür habe ich Dinge erlebt, die unbezahlbar sind: Man kannte Nationalspieler noch aus der Eckkneipe und unsere Bands und Stars hießen noch nicht alle in der Mitte »Fietschering«, sondern Kinks, Slade, Uriah Heep, Spencer Davis oder »Dave Dee, Dozy, Beaky, Mick and Tich«! Letztgenannte konnten wir in einem Rutsch runterbeten: Deyf-die-dosi-beyki-mick-an’-tisch. Haben wir lange dran geübt, sitzt dafür heute noch.

Wir hatten jede Menge Kumpel und unglaublich viel Spaß. Auch, weil vieles verboten war. Es gab schon damals nichts Aufregenderes, als Verbote zu übertreten. Weil das Erwischt-werden unweigerlich Folgen nach sich zog. Hausarrest, Fußballsperre, Taschengeldkürzung oder ganz schlimm: Filmverbot am Samstag! Von wegen Youtube oder Netflix 24/7 ha! Strafen drohten auch für den Missbrauch der Tonpfeife aus dem »Stutenkerl«, wenn wir mal wieder heimlich irgendwelche Kräuterblätter darin pafften. Oder nach dem »Licht aus!« mit Vadders Japan-Transistor (damals schon mit einem Mono-In-Ear!) unter dem niederrheinischen Kopfkissen heimlich »Radio Veronica« zu hören. Egal wie man im Fußball zu den holländischen Nachbarn stand, ihre Offshore-Radiosender spielten die geilste Mucke. Unsere amtlichen Sender (Privatsender gab’s noch lange nicht) waren die Domänen von Roy Black und Heintje. Wenn ich heute an das (ganz in weiße) »Mama«-Geplärre zurückdenke, weiß ich erst richtig einzuordnen, welch unglaublich große Toleranzleistung uns damals abverlangt worden ist.

Gott sei’s gedankt gab es »Radio Veronica«, »Radio Caroline« und andere. Da lagen doch tatsächlich ausrangierte und umfunktionierte Heringslogger und Minensuchboote außerhalb der Dreimeilenzone vor den Küsten von England, Holland und anderen Anrainerstaaten vor Anker und sendeten als Piratensender (sehr zum Missvergnügen von BBC und anderen Funkanstalten) eigene Programme auf dem Mittelwellenband: »Twee nul acht, volle kracht – 208 (MHz), volles Rohr«, pries ein Sender seine Frequenz an. Wir liebten diese Jingles. Was ein Jingle ist? Wie erklärt man das? Ein Jingle ist ein Audio-Schnipsel, wenige Sekunden lang, und wenn wir auch das Reingequatsche in unsere Tonbandmitschnitte bis hin zum Touretteanfall hassten, Jingles waren Kult und störten nie. Im Gegenteil, sie werteten jeden Mitschnitt auf. Zumindest die Guten:

Während also »Mister Tagesschau« Vadder die Welt erklärte und Muttern fand, dass Karl-Heinz Köpckes Krawatte mal wieder nicht zu seinem Anzug passte, lauschten wir den verbotenen Tönen, die gnädige, wetterbedingte Überreichweiten uns aus dem Äther bescherten. Verboten auch deswegen, weil erstens »abends nich’ rein und morgens nich’ raus« und zweitens Vadder seins! Drittens machte man so den sauteuren 9-Volt-Block leer und unser Alter Herr lauschte am nächsten Samstag im Freibad statt Kurt Brummes Bundesliga ins Leere. Uns war’s wumpe, Lex Harding war’s allemal wert. Wenn ich heute ab und an mal wieder im Auto radiohöre (Lieber Loriot, früher war nicht nur mehr Lametta, es war auch mehr Hörfunk), dann wundere ich mich, wie manch uninspirierte Schlaftabletten es ans Mikro geschafft haben. Wie ist das möglich? Als hätte es nie die Fährtenleger der Sechziger, Siebziger und Achtziger gegeben. Komme mir jetzt keiner mit den eindimensionalen Dilletanten der Neunziger (VIVA et aliter) – Kunst kommt von können, wenn es von wollen käme, hieße es Wunst. Hat denn keine/r mehr den richtigen Drive? Keine DJs mehr, nur noch Moderatoren! Da steckt die Langeweile schon in der Stellenbeschreibung: moderat = mäßigend. Derart mäßig unterhaltend sind die dann auch. Da waren zu meiner Zeit andere Kaliber am Werk:

Wo gibt es heute noch sowas? Unsere Funkwellen-Freibeuter waren anarchisch und ließen überkommene Konventionen »über die Planke gehen«. »Boah!«, staunten wir. Das Wort »Hip« gab es noch nicht, das Gefühl schon. Inzwischen haben wir zwar TV- oder Radiosendungen, in denen mindestens einmal ein unflätiges Wort benutzt wird (meine Mutter drohte in solchen Fällen, uns den Mund mit Seife auszuwaschen), aber von dem Spaß, den wir einst hatten, verspüre ich in der Jetztzeit nichts, gar nichts.

Ich habe das Gefühl, wir »Alten« werden wohl doch noch länger gebraucht. Gut, solche Sol-Eier wie Scholz & Co. eher nicht, aber manch Altgedienten sollten die Jungen vielleicht zuhören – und so einiges längst Vergessenes wiederbeleben …

Tipp: Unseren damaligen Zeitgeist und das richtige Feeling vermittelt z. B. dieser Film: »Radio Rock Revolution – The Boat That Rocked (2009)«


Background-Info:
Radio Veronica (später Hilversum 3) war ein bekannter niederländischer Piratensender, der von 1960 bis 1974 in der Nordsee aktiv war. Ziel der »Piraten« war es, neben der Erstveröffentlichung von Platten etablierter Rock&Pop-Größen auch unbekannte und neue Bands zu fördern, die keine Verträge von den großen Plattenlabels erhielten oder mit diesen eingehen wollten. Drei Labels kontrollierten de facto, was auf dem Festland im Radio gespielt wurde: Ohne Plattenvertrag keine Radiopräsenz und damit kein kommerzieller Erfolg.

Um die Hörerschaft (eigentlich waren es schon eher Fans) auf interessante und aufstrebende Künstler oder auf Hits aufmerksam zu machen, schuf Radio Veronica zwei Prädikate: Die »Troetelschijf« und die »Alarmschijf«.

Schijf ist niederländische Ausdruck für Schallplatte (Scheibe), »Troetel« die liebevolle Bezeichnung für etwas. »Troetelschijf« lässt sich bestens mit »Lieblingsplatte« oder »Knuddelscheibe« übersetzen und Alarmschijf ist eigentlich selbsterklärend. Die “Alarmschijf” war wie die “Troetelschijf” ein weiterer Begriff für die “Tipp-Single der Woche”. Beides waren Empfehlungen für eine Single oder einen Song und wurden jede Woche ausgewählt und den Hörern vorgestellt. Die Aktion trug dazu bei, die Popularität neuer Songs zu steigern und das Musikprogramm von Radio Veronica dynamisch und auf dem neuesten Stand zu halten.

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