Wie wir uns fortbewegt haben? Na zu Fuß, auf Schusters Rappen! Wie erkläre ich jetzt, was ein Rappe ist, ohne dass ich mich zu weit vom eigentlichen Thema entferne? Wisst ihr was, gugelt das! Für lyrisch Veranlagte war es das »Pferd des kleinen Mannes«, prosaische Gemüter sagten dazu einfach »Schuhe«. Heute heißen sie Treter, Jordans oder was weiß ich. Jedenfalls war unsere bevorzugte Fortbewegungsform »per pedes apostolorum« (könnt ihr gleich weitergoogeln)!
Aber was heißt bevorzugt – es gab nix anderes. Von wegen Helikopter-Mütter und mit dem SUV zum Kindi! »Ihr habt noch junge Beine!«, hieß es. Und so tippelten wir los: in die Schule, zur Kirche, auf den Sportplatz – ganze Karawanen ausgemergelter Kleinstlebewesen bewegten sich damals füßlings durch deutsche Dörfer und Städte. Im Sommer barfuß, so oft und so lange es das Wetter zuließ. Ansonsten in Sandalen. Mit Strümpfen. Heute ein No-Go, aber damals regierte nicht die Mode, sondern eine besorgte Mutti. Und wenn nicht die, dann irgendeine Oma oder Tante! Da gab’s kein Entrinnen.
Zurück zur Fortbewegung – bei Regen schützten wir unsere Füße mit Gummistiefeln. Damit wir keine nassen Füße bekämen! Bekamen wir aber doch! Irgendwie kam immer Wasser rein. Entweder hatten die Stiefel einen Riss oder irgendein Gewässer schwappte halt von oben rein. In Friedrichsfeld war das (verbotenerweise) der Kanal, später in Borken dann die Aa. Trockenen Fußes kam man mit den Gummizischpen jedenfalls nie nach Haus. Wenn man Glück hatte, waren wenigstens keine Kaulquappen drin.
Dann kam der erste Roller – nein, erst kam ja das Dreirad! Es ließ sich auch zum Zweirad umbauen. Gritzegrün, mit großen Ballonreifen und einer Rücktrittbremse! Nicht grübeln, hatte nix mit politischem Beharrungsvermögen zu tun, sondern man stieg dabei voll in die Pedale und die Hinteräder blockierten. Besonders effektvoll war’s beim Zweirad, wenn ich mit blockierendem Hinterrad einen gekonnten Halbkreis hinlegte. Das imponierte meiner Sandkastenfreundin, Cornelia Ufermann – hoffte ich. Das Rad wurde in meiner Familie von Bruder zu Bruder weiter vererbt. Erst vom großen auf den mittleren, dann vom mittleren auf mich. Und jedesmal wurde es wieder umgebaut: vom Dreirad auf ein Zweirad und wieder zurück! Machte mein Opa. Bei mir wollte er es sich sparen: »Der Kleene schafft das schon auf zwei Rädern«. Nachdem ich in der Hecke landete, wurde auf drei Räder umgerüstet. Nach zwei Tagen war ich zweiradfit und Opa Neumann musste wieder ran: »Dieser verflixte Lorbas!«, schimpfte Paul Georg, fügte sich aber gottergeben in sein Schicksal. Mein Opa war eben ein geduldiges Schaf. Von da an ich düste als grüner Pfeil zwischen den Häuserzeilen der Friedrichsfelder Parkstraße umher.
Danach kam die Zwischen-Ära der Roller. Nicht die titanlegierten Hightec-Roller von heute – nein, die aus Holz. Ich glaube, bei denen waren sogar die Achsen aus diesem nachwachsenden Rohstoff. Voll öko! Jedenfalls hatten wir Spaß wie Bolle, wenn wir über die Gehwege der Park- und Wilhelmstraße und dem Bauhof brausten. Immer verbunden mit Tatü-Tata und Geheul – sehr zum Missvergnügen der älteren Nachbarschaft. Aber was konnten die schon ausrichten – damals waren wir eindeutig in der Überzahl. Sind wir heute übrigens wieder. Ihr jungen seid also besser nett zu uns!
Den nächsten Auftritt hatten die Rollschuhe. Keine Rollerstiefel, wie es sie später gab. Unsere waren einfache Stahlblech-Gestelle mit 2 Achsen und 4 Rollen, die man unter die Straßenschuhe schnallte. Mit einen Vierkantschlüssel wurden seitliche Klemmbacken an die Schuhe gespannt und obendrein mit Schnürschnallen um Vorderfüße und die Knöchel fixiert. Die Länge konnte auch eingestellt werden, damit (Mitdenkende ahnen es bereits) die Dinger an kleinere Geschwister weiter vererbt werden konnten. War ’ne wackelige Angelegenheit, aber irgendwann waren wir darin so gut, dass wir in unserer Straße eine Zeitlang keinen Fußball mehr spielten, sondern nur noch Rollschuh-Hockey. Alles, was auch nur im Entferntesten einem Eishockeyschläger ähnelte, wurde zweckentfremdet: Opas Krückstock; herausgerissene und zusammengenagelte Zaunlatten; der emblaimverzierte Wanderstock meines Vaters, ein Liebhaberstück und Mitbringsel aus dem letzten Kärnten-Urlaub – nichts war vor uns sicher, wenn es dem sportlichen Erfolg diente! Der Spaß war jedes Opfer wert und Schimpfen tat schon damals nicht weh. Und wenn tatsächlich mal der Spieß umgedreht und der Teppichklopfer von der elterlichen Gewalt zweckentfremdet wurde, tröstete uns die von Generationen von Vor-Bestraften überlieferte Lebensweisheit: »Senge vergeht, der A**** besteht!«
Irgendwann kam dann das erste »große« Fahrrad, zur Konfirmation meines großen Bruders. Ein Jugendrad Marke »Neckermann Blitz«, schwarz mit silbernen Applikationen. Besaß eine antik anmutenden Bremse, die von oben einen Bremsklotz auf das Profil drückte! Weil das nicht immer gut funktionierte, war der Rücktritt (siehe oben) oftmals unentbehrlich. Für kleinere Pannen gab’s eine lederne Werkzeugtasche am Sattel. Der war auch aus Leder. Ich freute mich schon mal vor, in ein paar Jahren wäre es sowieso meins. So kam es dann auch. Schon vorher (da wohnten wir in Borken/Westfalen), versuchte ich gelegentlich heimlich, damit zu fahren: das Rad seitlich gegen den Gehweg geneigt (wegen fehlender Körpergröße und hinderlicher Stange), einen Fuß auf der Pedale, mit dem anderen Fuß auf dem Bordstein hüpfend Geschwindigkeit gewinnend, schwang ich mich schließlich auch auf die zweite Pedale und siehe da – es klappte! Im Stehen (der Sattel war fürs Gesäß unerreichbar) radel-eierte ich los. Bis … ja, bis der Hund von Windbraakes sein Postboten-Jagdfieber auf mich übertrug und erneut eine Hecke (ebenfalls die von Windbraakes) dem weiteren Erfolg ein Ende setzte. Aber da war das Radlfieber unter uns schon ausgebrochen. Was sind wir herumgedüst, eine ganze Gang: der Erwin, die Zwillinge, der Wolfgang, »Pelle«, Wilhelm, Ulrich und so viele andere noch – gefühlt eine Hundertschaft. Vom Uhlenspiegel nach Gemen, zum Lünsberg oder ins Moor. Wir waren Entdecker wie Christopher Columbus.
Auch wenn es Jugendlichen von heute manchmal vorkommen mag, als wären wir damals gerade der Steinzeit entlaufen (»Wie jetzt … kein Internet?«), waren wir technisch trotzdem ziemlich auf der Höhe. Wir sind nämlich die, die schon bei der Mondlandung dabei waren. Live! Und umweltbewußt waren wir, als es das Wort noch gar nicht gab. Unsere Schuhe wurden bei Bedarf neu besohlt, vom Schuster. Den gab’s damals in jedem Dorf! Bei uns war es der Schuster Geldermann in der Spellener Straße. Dort roch es nach Leder und Knochenleim. Man hielt dem Meister die Schuhe hin und warte gespannt auf sein Urteil: »Kriegen wir wieder hin, wär‘ ja schad um das gute Stück!« Meine ersten Fußballschuhe (ebenfalls Erbstücke, mit genagelten Lederstollen und Stahlkappen) hat er mir repariert. Uralte Treter, deren Herkunft nicht überliefert ist. Meine Kumpels kickten in neuen Dassler-Schuhen, bei mir meinte mein Vater: »Erst mal sehen, ob du Talent hast!«. Klar, ich war der jüngste in der Familie – wem hätte man bei meinem Karriereende die neuen Schuhe weiter vererben sollen? Und wegen überzähliger Fußballstiefel nochmal Nachwuchs zeugen? Eher nicht, mein Vater war gelernter Bankkaufmann, der konnte kalkulieren. Also lief ich mit vorsintflutlichen Fritz-Walter-Gedächtnisstiefeln auf – und schoss eifrig Tore! Hasso Damm (»Locke und die Fußballstiefel«, Neue Jugendbuch-Verlag 1957) hatte also Recht: »Nicht auf den Schuh kommt es an, sondern auf den, der darin steckt!«.
Ganz nebenbei lernte ich so, das Altes nicht zwangsläufig überflüssig oder unbrauchbar ist. Man gab auf Sachen acht und nutzte sie so lange es ging! Vieles wurde repariert und erhielt so eine zweite und dritte Chance! Abgebrochene Absätze, durchgelaufene Sohlen oder ein abgerissener Riemen von der Sandale – Meister Geldermann machte alles wieder heil! Wenn wir nicht »öko« waren, wer dann? Ich vermisse es.
PS. Angesicht der Klimakleber wird mein nächstes Verkehrsmittel vermutlich ein Opel Viagra – für den stehenden Verkehr!
Der Holzroller hieß bei uns übrigens Radelrutsch.