Die Warze

Irgendwann war sie da. Sozusagen über Nacht. Ich wollte sie wohl ungesehen machen und versuchte noch, sie zu verbergen, aber meine Oma bemerkte sie. Beim Mittagessen.

»Der Junge hat ‘ne Warze!«

Richtig, da war ein linsengroßes Gezuppel an meinem linken Daumen, dass da nicht hingehörte.

»Bitte nicht beim Essen, Mutter«, rügte ihre Tochter. »da vergeht einem ja der Appetit.«

»Kommt von seinem dauernden Daumenlutschen«, meinte mein Bruder altklug. So ein Blödsinn, Brüste haben schließlich auch Warzen, selbst wenn noch nie ein Säugling dran gelutscht hat. Der Intellekt für diese Logik fehlte mir zu dem Zeitpunkt allerdings noch, ich war erst drei oder vier. Sei’s drum – die besten Argumente fallen einem sowieso immer erst dann ein, wenn das Streitgespräch schon längst vorbei ist.

»Oder Frösche! Und Kröten! Von denen kriegt man auch Warzen«, wußte mein Bruder noch. Auch so eine Volksweisheit das. Wir haben damals ja alles mögliche angefasst: Schnecken, Regenwürmer, Heuschrecken, Blindschleichen, auch Kröten und Frösche! Dann hätte aber die Märchenprinzessin, nachdem sie den Froschprinzen (oder Prinzenfrosch) geküsst hatte, die Gosch voller Warzen haben müssen. Hatt’se aber nicht! Von derlei Nebenwirkungen steht nichts im Märchen. Nur, dass dem Kutscher die eisernen Fassreifen von der Brust sprangen. What, ein Diener mit eisernem Mieder? Nun, die hatte sich der gute Heinrich um seine Brust legen lassen, dass ihm nicht sein Herz zerspränge. Aus Kummer. Jetzt platzten sie weg. Vor Freude. Mit lauten Knall. So laut, dass der Prinz in seiner Kabine zusammenzuckte: »Heinrich, der Wagen bricht!« Tat er aber nicht.

Frösche zu küssen hilft anscheinend sogar gegen Beklemmungen in der Brust, so sieht’s mal aus! Weil die Prinzessin mit der Amphibie geknutscht hatte! Nachzulesen in Grimms Märchen. Von wegen von Frösche machen Warzen.

Dabei fällt mir ein – ich hatte mal im Zug eine Frau gesehen, die hatte eine Warze an der Oberlippe. Da musste ich immer draufgucken. »Was hat denn die Frau da«, fragte ich unbekümmert. Berührungsängste von heiklen Themen kannte ich damals noch nicht. Die bekommt man erst später beigebogen. »Das ist nichts, sei still.« – »Doch, guck mal – da, über der Lippe«, insistierte ich und zeigte mit dem Finger darauf. Umgehend wurde mir der Arm runtergezogen. Meine Mutter zischte mir irgendwas zu was so klang wie »wenn du jetzt nicht« und »das war das letzte Mal«.

Sie versuchte es mit Ablenkung: »Kuck mal! Kühe!« (Ich weiß, es heißt »gucken«, aber nicht am Niederrhein!) Draußen glitten die ausgedehnten, topfebenen Wiesen meiner niederrheinischen Heimat vorbei. Schwarzbunte ließen sich das saftige Gras schmecken. Vorne fraßen, in der Mitte verdauten sie und hinten produzierten sie die höchsten Erhebungen des Niederrheins. Ich hatte aber nur Blicke für die Warze. “Kuck doch mal!” Meine Mutter wollte partout nicht auf das Lippengewächs eingehen. Vielleicht war ihr schlecht, sie wechselte die Gesichtsfarbe von blass zu purpur und zurück. Zum Glück mussten wir in Wesel raus. An der Luft ging es ihr gleich besser und ihr Teint wurde wieder normal. Schade. Hätte mein Bruder schon früher erwähnt, dass man von Fröschen Warzen bekommen würde, hätte ich die Frau noch fragen können, wo denn ihr Prinz sei und ob sie den goldene Ball noch bräuchte. Meiner war grade kaputt. Manches Wissen kommt einfach zu spät.

Zurück zu meiner Warze. Nach dem Mittagessen ging meine Großmutter mit mir auf die Wiese und pflückte Löwenzahn. Sie drückte den Saft aus dem Stängel und träufelte mir diesen auf meine Warze. »Du darfst aber nicht dran lecken, das ist giftig!”, warnte sie mich. Vermutlich wollte sie nur verhindern, dass ich noch länger am Daumen lutschte. Ich glaubte ihr und bewahrte dieses heilkräuterische Wissen in meinem Gedächtnis, wo es mir Jahre später in der Schule einen Punktabzug und eine Berichtung in Bio einbrachte. Hätte ich mir eigentlich denken können, dass Löwenzahn nicht giftig ist. Peter Lustig hätte sich niemals mit einer Giftpflanze eingelassen. Aber den gab es ja auch noch nicht. Aber die Kaninchen vom Nachbarn, die fraßen das Zeugs ja auch und gestorben sind die an Nachbars Handkante und nicht an Löwenzahn. Wie gesagt, für Logik und Intellekt war ich noch zu klein.

Der Löwenzahnsaft hat jedenfalls in doppelter Hinsicht geholfen: ich lutschte nicht mehr am Daumen und die Warze wurde braun und fiel ab. Ob das am Wurzelsaft lag oder daran, dass ich ständig an dem braunen Gewächs herumknibbelte – ich weiß es nicht. Irgendwann gab sie jedenfalls auf und verschwand. Über Nacht, genauso wie sie gekommen war.

Noch ein Tipp: In hartnäckigen Fälle empfehlen Tom Sawyer und Huckleberry Finn um Mitternacht mit einer toten Katze zum Grab eines schlechten Kerls zu pilgern und auf den Teufel zu warten. Näheres bei Mark Twain. Klingt interessant, aber woher kriegt man ‘ne tote Katze und wo findet man das Grab eines schlechten Kerls? Glaubt man den Todesanzeigen, sterben doch nur gute Menschen. Vermutlich bezog Mark Twain sein Wissen über Warzen aus derselben Quelle wie mein Bruder.

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